Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1938


Till Eulenspiegel.

Von Prof. DR. GUSTAV HAACK, Wentorf bei Reinbek.

Eulenspiegel als geschichtliche Persönlichkeit.
 

Es wird heute wohl niemand im Ernst bezweifeln wollen, daß es einen Till Eulenspiegel wirklich gegeben hat. Denn wenn wir auch keine geschichtlichen Urkunden besitzen, in denen seine Zeitgenossen von ihm berichten, so gibt es doch untrügliche Beweise für seine Existenz. Sein Andenken lebt seit Jahrhunderten in den verschiedensten Gegenden Deutschlands fort, in Kneitlingen bei dem bekannten Schöppenstedt im Braunschweigischen, wo er geboren ist, trägt ein Bauernhof seinen Namen, in der Nähe des Hofes gab es früher den Eulenspiegelsteg über einen Bach, in Bernburg heißt der Schloßturm nach ihm, bei Klaustal-Zellerfeld im Harz befindet sich der Eulenspieglerteich, in Mölln zeigt man seinen Grabstein. Wie sollten die Leute in diesen verschiedenen Orten auf den Gedanken gekommen sein, die Örtlichkeiten mit dem Namen Eulenspiegels in Verbindung zu bringen, wenn es einen wirklichen Träger dieses Namens niemals gegeben hätte? Noch wichtigere Zeugnisse aber enthält das Eulenspiegelbuch in den Angaben über Personen, die wirklich gelebt, und Ereignisse, die sich zu seiner Zeit zugetragen haben. Schon gleich der Anfang des Buches berichtet von urkundlich nachweisbaren Personen: "Bei dem Wald Elm genannt, in "[*]dem Lande Sachsen, in dem Dorf Kneitlingen, da ward Eulenspiegel "geboren, und sein Vater hieß Klaus Eulenspiegel und seine Mutter "Anna Wibeken. Und da sie des Kindes Eulenspiegel genas, da "schickten sie es gen Ambleben, in das Dorf zur Taufe und ließen es "heißen Till Eulenspiegel. Und TILL VON ÜTZEN, der Burgherr von "Ambleben, ward sein Gevatter. Und Ambleben ist das Schloß, das "die von Magdeburg etwa vor 30 Jahren mit Hilfe der anderen Städte "als ein arges Raubschloß zerbrachen. Die Kirche und das Dorf dabei "hat nun in Besitzung der würdige ARNOLD PFAFFENMEYER, ABT ZU SANKT ÄGIDIEN." Tatsächlich gab es zur Zeit Eulenspiegels ein braunschweigisches Rittergeschlecht von Ützen, das in Ambleben und Kneitlingen Güter besaß. 1425 ist das Schloß zu Ambleben von den Magdeburgern zerstört worden, und über den Abt Papenmeyer zu

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[*] Ehemals übliche Ziterweise, bei der am Anfang JEDER zitierten Zeile Anführungsstriche auf diesen Tatbestand hinweisen.


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St. Agidien in Braunschweig gibt es mehrere Dokumente aus dem Ende des 15. Jahrhunderts.

Auch der Name Eulenspiegels ist in zwei Urkunden der Stadt Braunschweig belegt, und zwar einer lateinischen aus dem Jahre 1337 und einer niederdeutschen von 1355. In beiden handelt es sich um eine Frau, "de Ulenspeygelsche". Man vermutet, daß es Eulenspiegels Mutter war. Jedenfalls läßt die Form "Ulenspeygelsche" darauf schließen, daß von einer Witwe die Rede ist. Ob Ulenspeygel nun ihr Familienname oder nur ein Beiname war, läßt sich nicht Nachweisen. Ebenso gewagt ist es, den Namen so erklären zu wollen, wie es von den meisten Eulenspiegelforschern geschieht, nämlich daß die plattdeutsche Form bedeuten soll: Uhl den Speigel, mach den Spiegel (mit der Handeule) rein, wo der Spiegel dann so aufzufassen ist, wie der Jäger von dem Spiegel des Rehes spricht.

Diese kurzen Angaben über seine Geburt und Herkunft mögen genügen, um zu zeigen, daß wir bei der Behandlung der Eulenspiegelfrage durchaus AUF GESCHICHTLICHEM BODEN stehen. Auch über seine Taten, sein Leben und seinen Tod gibt es viele Zeugnisse, die man an der Hand der Angaben im Volksbuch allmählich zusammengetragen hat. Danach kann über die Persönlichkeit Eulenspiegels folgendes als geschichtlich erwiesen festgestellt werden:

Till Eulenspiegel wurde um 1300 herum in Kneitlingen als der Sohn des Bauern Claus Eulenspiegel und der Anna Wibecke (Mädchenname?) geboren. Nach dem frühen Tode ihres Mannes zog die Mutter in die Stadt und gab ihren Sohn bei einem Handwerker in die Lehre. Aber der Junge hielt es in keinem Handwerk aus und lernte nichts Ordentliches. Er strich im Lande umher, arbeitete bei einem Handwerker, wenn der Hunger ihn dazu trieb, machte bald irgendeine Dummheit, sodaß er weiterziehen mußte, und lernte auf seinen Fahrten die Städte des ganzen mittleren und nördlichen Deutschlands kennen, von Köln bis Frankfurt a. O., von Prag und Nürnberg bis Lübeck. Er starb noch jung an der Pest in Mölln in Lauenburg im Jahre 1350.

Die Streiche, die er den Handwerksmeistern spielte, fanden beim Volke viel Gefallen,- sie wurden überall erzählt und er selbst weit und breit bekannt. Nicht selten kam er zu einem Meister, der schon von seinen Streichen gehört hatte und deshalb versuchte, den Eulenspiegel nun seinerseits hereinzulegen. Wenn dies gelang, mußte es unsern Schalk natürlich besonders reizen, den ihm gespielten Streich zu vergelten. Daß dieses Scherzspiel besonders anmutig gewesen sei, kann man nicht behaupten. Die Streiche sind oft recht derb, ja unflätig. Die Leute der damaligen Zeit waren nicht so feinfühlig wie wir heute. Das Wesen der Streiche besteht meist darin, daß Eulenspiegel wörtlich das ausführt, was der Meister ihm geboten hat, z. B. Historie 19 *) Wie Eulenspiegel sich zu Braunschweig verdingte zu einem Brotbäcker als Bäckerknecht und wie er Eulen und Meerkatzen buk, Hist. 20. Wie er in dem Mondschein das Mehl in den Hof beutelte, Hist. 40

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*) Die Zahlen in den Überschriften der Historien sind die der Lappenbergischen, nicht der Reklam-Ansgabe (s. Bibliographie).

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Wie er einem Schmied Hämmer, Zangen und anderes Werkzeug zusammenschmiedete, Hist. 43 Wie er einem Schuhmacher diente und wie er ihn fragte, was für Formen er zuschneiden sollte. Der Meister sprach zu ihm: Groß und klein, wie der Sauhirt zu dem Tore hinaustreibt. Also schnitt er zu Ochsen Kühe, Kälber, Böcke und dergleichen und verdarb das Leder. Hist. 47 Wie er zu Eimbeck ein Brauerknecht ward und einen Hund, der Hopf hieß, statt Hopfen sott.




Titelblatt der Grieningerschen Ausgabe 1515.


Das Volksbuch vom Eulenspiegel.

Seine Entstehung und die ältesten Drucke.

Wann die Eulenspiegelgeschichten zum ersten Male aufgeschrieben worden sind, das läßt sich mit Bestimmtheit nicht feststellen, auch nicht, wer sie niedergeschrieben hat. Fest steht nur, daß die erste Niederschrift niederdeutsch gewesen ist. Sie ist um 1500 entstanden, also 150 Jahre nach dem Tode ihres Helden. Das ist für die Beurteilung der Eulenspiegelfrage von außerordentlicher Wichtigkeit. Wie müssen wir uns die Entstehung des Volksbuches denken? Man stelle sich einmal vor, es wollte heute jemand die Geschichten und Erzählungen von dem bekannten Wilddieb Eidig, der vor etwa 100 Jahren in unserer Gegend lebte, sammeln und aufzeichnen. Er würde bei den Bauern eine Reihe von Geschichten hören, die alle ziemlich gleichlautend sind, er würde


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andere hören, die nur dem einen oder andern bekannt sind, er würde auch solche hören, die ursprünglich einen andern Helden haben, jetzt aber dem Eidig zugeschrieben werden. Ähnlich so ist es mit den Eulenspiegelgeschichten gegangen. Am einen Kern von Streichen, die er wirklich begangen hat, lagert sich eine Schicht ähnlicher Streiche, die man ihm schon früh zuschrieb, und um diese wieder eine ganze Schicht, bei der man auf den ersten Blick sieht, daß sie in Wirklichkeit mit ihm gar nichts zu tun haben können. Das alles würden wir leicht feststellen können, wenn die plattdeutsche Originalausgabe des Eulenspiegel erhalten wäre. Leider ist sie wohl unwiederbringlich verloren. Daß sie vorhanden war, geht klar daraus hervor, daß in dem uns vorliegenden Volksbuch eine große Menge plattdeutscher Ausdrücke vorhanden sind, die sich in den hochdeutschen Text eingeschlichen haben *). Außerdem geht aus einem noch vorhandenen Ausgabenregister des Klosters Ilsenburg [vom Jahre 1520] hervor, daß das Kloster zwei Exemplare der plattdeutschen Ausgabe von Braunschweig bezogen hat.

Der älteste Druck des Volksbuches stammt aus dem Jahre 1515. Von diesem hat der Göttinger Gelehrte EDWARD SCHRÖDER im Jahre 1911 einen Faksimile-Abdruck im Insel-Verlag herstellen lassen. Der Titel lautet: EIN KURTZWEYLIG LESEN VON DYL ULENSPIEGEL, GEBOREN US DEM LANT ZU BRUNSWICK. WIE ER SEIN LEBEN VOLLBRACHT HATT. 96 SEINER GESCHICHTEN. Auf dem Titelblatt befindet sich eine Abbildung Tills, reitend auf einem Pferde, mit einem mit Troddeln besetzten Wams angetan, in der Rechten eine Eule, in der Linken einen Metallspiegel haltend. Der größte Teil der Geschichten ist mit Holzschnitten (86) verziert. Am Ende des 130. Blattes steht: Gedruckt von Johannes Grieninger in der freien Stadt Straßburg, auf Sankt Adolfstag im Jahr 1515. Dieser älteste Druck war früher nicht bekannt. Daher finden wir bei LAPPENBERG, dem bekannten hamburgischen Archivar und Historiker, der die erste wissenschaftliche Ausgabe des Eulenspiegelbuches im Jahre 1854 veranstaltet hat, die zweite Grieningersche Ausgabe vom Jahre 1519 abgedruckt. Dieser zweite Grieningersche Text ist eine Verbesserung und Erweiterung des ersten von 1515. Lappenberg ließ sein Buch erscheinen unter dem Titel: DR. THOMAS MURNERS ULENSPIEGEL. Obgleich inzwischen nachgewiesen worden ist, daß Lappenberg den Ulenspiegel fälschlich dem Thomas Murner zugeschrieben hat, ist seine Arbeit für alle wissenschaftlichen Untersuchungen über den Eulenspiegel maßgebend geworden. Außer einem genauen Abdruck des Textes der 96 Geschichten bietet sein Buch ein Wörterbuch und 60 Seiten Erläuterungen zu den einzelnen Historien, eine Übersicht über die Neudrucke des Ulenspiegel (108 [sic!] bis 1849), sowie eine längere Abhandlung über die Abfassung, die Quellen und Erweiterungen des Buches.

Diese beiden Drucke von Grieninger sind Neudrucke eines etwa um 1510 ebenfalls bei Grieninger erschienenen Erstlingsdruckes, der nicht mehr vorhanden ist. Von dem von 1515 existiert nur ein Exem­

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*) Vgl. Beilage (am Schluß im folg. Heft).


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plar, das sich im Britischen Museum in London befindet, von dem von 1519 auch nur eins in Gotha. Die Grieningerschen Drucke sind alle sehr nachlässig gearbeitet und wimmeln von Versehen, Satz- und Druckfehlern, obgleich der Verleger es sich viel Geld hat kosten lassen und die einzelnen Geschichten mit Holzschnitten versehen hat.

A us einer andern Werkstatt, der des SERVAIS KRUFFTER IN KÖLN, ist bald darauf (zwischen 1519 und 31) eine neue Ausgabe des Volksbuches hervorgegangen, die 1865 von dem Berliner Buchhändler Ascher unter dem irreführenden Titel: Tyel Ulenspiegel in NIEDERSÄCHSISCHER Mundart nach dem ältesten Druck des Servais Kruffter photolithographisch nachgebildet, wieder gedruckt worden ist. Dieser Neudruck enthält aber nicht das plattdeutsche Original, wie man nach dem Titel annehmen sollte, sondern eine Übertragung des ersten Grieningerschen Druckes in das Niederrheinische.

Zur selben Zeit wie der Krufftersche in Köln erschien auch der erste NIEDERLÄNDISCHE: Van ulenspieghels leven en schimpelijcke wercken en wonderlijcke avontueren die hi hadde Want hi en liet hem gheen boeverie verbrieten. Gheprint Thantwerpen in die Rape by my Michael van Hoochstraten. Auch dieser Text geht auf Grieninger zurück. Dasselbe gilt auch von der ersten FRANZÖSISCHEN Ausgabe (Paris 1532) und der ENGLISCHEN, wo Eulenspiegel 'Howleglas' heißt.


Der Verfasser.

In den beiden Grieningerschen Ausgaben findet sich eine fast gleichlautende Vorrede *), die schon aus dem plattdeutschen Original übernommen ist. Danach will ein gewisser N. um 1500 von seinen Freunden gebeten worden sein, daß er "die Historien und Geschichten von Eulenspiegel solle zusammenbringen und beschreiben". Er habe sich lange gesträubt, denn er sei leider "der lateinischen Geschrift ungelert und ein schlichter Laie", aber schließlich habe er doch eingewilligt. Wer mag nun dieser N. gewesen sein? Er muß in der Stadt Braunschweig gelebt haben, denn er kennt die dortigen Verhältnisse, was aus der Erwähnung des würdigen Arnold Papenmeier, des Abtes zu Sankt Agidien in Braunschweig (Hist. 1), und des Pfarrers Heinrich Hamenstede in Goslar (Hist. 64) hervorgeht. Aber beide sind geschichtliche Dokumente, die um 1500 herum ausgestellt worden sind, vorhanden. Ob der erste Compilator der Eulenspiegelgeschichten nun aber der Braunschweiger Zollschreiber Hermann Bote, der auch sonst literarisch tätig gewesen ist, war, wie von verschiedenen Seiten angenommen wird, das bleibt sehr zweifelhaft. Ebenso läßt sich auch nicht bestimmt nachweisen, daß der plattdeutsche Text in Braunschweig gedruckt worden ist, wenn auch eine große Wahrscheinlichkeit dafür spricht.

Auch die andere Frage, wer den plattdeutschen Eulenspiegel ins Hochdeutsche übertragen hat, ist nicht gelöst. Lappenbergs Annahme, daß der bekannte Satiriker THOMAS MURNER es getan habe, ist widerlegt worden. Und ebenso unbeweisbar bleibt es, daß der Franziskaner JOHANN PAULI, der Verfasser der Satire "Schimpf und

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* Vgl. Anlage 1 (am Schluß im folgenden Heft).


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Ernst" (1515) es gewesen ist. Mit den uns bislang zur Verfügung stehenden Mitteln, namentlich solange wir das plattdeutsche Original nicht kennen, müssen alle Versuche, den Verfasser und den Übertrager kennen zu lernen, als aussichtslos gelten.

Der Inhalt.

Wie die plattdeutsche Vorlage ausgesehen hat, das können wir uns ungefähr vorstellen. Der Straßburger Herausgeber hat am Schluß der ursprünglichen Vorrede, welcher lautet: "Und ende damit meine Vorrede und geb den Anfang von Till Eulenspiegels Geburt", noch hinzugefügt: "mit Zulegung etlicher Fabeln des Pfaffen Amis und des Pfaffen von dem Kalenberg" *). Diese zusätzlichen Geschichten hat Grieninger nun nicht etwa ans Ende des Buches gesetzt, sondern sie zwischen die einzelnen Geschichten eingeschaltet. Vielleicht hat er die Geschichten seiner plattdeutschen Vorlage auch neu geordnet. Die Vorlage hatte keine Überschriften, wie man daraus ersehen kann, daß bei Grieninger mehrfach Aberschrift und Inhalt einer Historie sich nicht decken. Auch ist nicht anzunehmen, daß die alte plattdeutsche Ausgabe schon mit Illustrationen versehen war. In dem Volksbuch, wie es uns heute vorliegt, sind die Geschichten nicht nach den Orten der Begebenheit oder der Zeit nach geordnet, sondern es sind immer bestimmte Schwänke, die eine innere Verwandtschaft zeigen, aneinandergereiht. Die Anordnung ist etwa folgende (nach Lappenberg):

Hist. 1-9. Herkunft und Jugendstreiche des Till Ulenspiegel, wozu auch vielleicht Hist. 10 und 21 noch gerechnet werden können.
11-13. Tills Schwänke bei dem Pfarrer zu Budensteten.
14-17. Marktschreier- und Quacksalbernovellen.
18-20. Drei Brot und Bäcker betreffende Schwänke.
22-27. Sechs sehr verschiedenartige Geschichten, welche aber darin übereinstimmen, daß der Possenreißer in denselben weltlichen Fürsten gegenübersteht, welche er überlistet.
28 u.29 verhöhnen die Weisheit der Universitäten, sowie 30 diejenige anderer Klugen.
31-38 mit einigen Ausnahmen betreffen geistliche Herren.
39-62 erzählen sämtlich von gefoppten Handwerkern; auch 74, welche später gestellt, wie oben 18-20, die Bäcker betreffend, vorangestellt waren.
63-66 betreffen verwandte Gewerbe.
67-73 enthalten verschiedenartige Schwänke, deren Quellen meistens nachweisbar sind.
75-86 beziehen sich sämtlich auf Wirte und Bewirtung, wohin also auch 33 richtiger gehört hätte.
87-89 folgen drei anderweitige Historien.
90-96 erzählen von der Krankheit, dem Testament, Tod und Grab des Ulenspeigel.
 

Die Quellen.

Der Herausgeber war bestrebt, möglichst viele Geschichten vom Eulenspiegel zusammenzubringen. Er hätte sie gern auf hundert gebracht. In dem Druck von 1515 ist bei der Numerierung der Historien die Zahl 42 aus Versehen weggelassen worden, so daß das Volksbuch nur 95 Geschichten enthält, nicht 96, wie angegeben wird. Diese Aus-

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* Vgl. Anlage 1.

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lassung ist auch in der verbesserten Ausgabe von 1519 verblieben. Außerdem ist die 96. Historie keine wirkliche Geschichte, sie ist nur die Wiederholung der letzten Worte der 95. Geschichte.

Die 94 Historien sind nun verschiedenen Ursprungs. Nach der Vorrede enthält das Volksbuch mehrere Historien aus dem "PFAFFEN AMIS", einer Sammlung allbekannter Schwänke, die um 1250 von dem STRICKER, einem österreichischen Dichter, zusammengestellt ist, und aus den "GESCHICHTEN DES PFARRERS VOM KALENBERG", der zur Zeit Eulenspiegels, ebenfalls in Österreich, gelebt haben soll. Die Zahl dieser Schwänke ist aber nicht groß. Es sind 7, nämlich 2 aus dem Kalenberger (14. Wie Eulenspiegel vorgab, daß er zu Magdeburg von der Laube fliegen wollte, und 23. Wie Eulenspiegel einem Pferde ließ goldene Hufeisen aufschlagen) und 5 aus dem "Pfaffen Amis" (17. Wie Eulenspiegel alle Kranken in einem Spital an einem Tag ohne Arzenei gesund machte, 27. Wie Eulenspiegel für den Landgrafen von Hessen malte und ihm weismachte, wer unehelich wäre, der könnte das Bild nicht sehen, 28. Wie Eulenspiegel zu Prag in Böhmen auf der Hohen Schule mit den Studenten konversierte und wohl bestand, 29. Wie Eulenspiegel zu Erfurt einen Esel lesen lehrte in einem alten Psalter, 31. Wie Eulenspiegel mit einem Totenkopf als wundertätiger Reliquie umherzog und viel Opfer damit einnahm). Im Volksbuch finden wir diese Schwänke zum Teil der Vorlage ganz frei nacherzählt, zum Teil ganz eng angeschlossen, ja wörtlich wiederholt. Diese Erzählungen waren schon im Mittelalter in der ganzen abendländischen Schwankliteratur bekannt und finden sich in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, ja in Indien ausgezeichnet.

Nach Abzug dieser 7 Geschichten bleiben noch 87 nach. Man würde nun fehlgehen, wenn man meinte, diese enthielten alle wirklich von Eulenspiegel begangene Streiche. Auch unter diesen sind noch mehr als 20, deren Quellen man nachweisen kann. Es ist hier nicht der Ort, die Quellen im einzelnen aufzuzählen. Sie finden sich in den Sammlungen lateinischer Facetten (Scherzreden) des Humanisten HEINRICH BEBEL, des Florentiners POGGIO BRACCIOLINI, in alten italienischen Novellensammlungen, mittelalterlichen Epen und dergl. Auf der Suche nach den Quellen sind die Forscher auch schon zu weit gegangen. So hat Lappenberg 5 unserer Geschichten auf die Repues Franches (freie Zeche), die dem bekannten französischen Dichter FRANCOIS VILLON fälschlich zugeschrieben werden, zurückführen wollen, aber eine nähere Betrachtung hat ergeben, daß diese Schwänke auch sonst im Volke bekannt waren, sodaß es nicht angängig ist, eine direkte Entlehnung aus der französischen Quelle anzunehmen.

Wenn man nun alle die Historien als unecht ausschaltete, für die eine Quelle nachgewiesen werden kann, so blieben immer noch mehr als 50 Geschichten nach, die den ursprünglichen Bestand der Eulenspiegelgeschichten ausgemacht haben müssen. Eine Zusammenstellung ergibt, daß es sich um den großen Komplex der Handwerkergeschichten (besonders Hist. 39-66), des Helden Jugend und Lebensende handelt.

Diese "echten" Historien der ältesten Schwanksammlung umfassen schon ein weites Gebiet. Vom Land Braunschweig (Kneitlingen,

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Ambleben, Braunschweig, Büddenstedt, Wolfenbüttel, Kissenbrügge, Mariental), der engeren Heimat Eulenspiegels, hatte das Gebiet der Taten unseres Helden sich nach allen Seiten ausgebreitet: im Norden nach Bremen, Hamburg, Stade, Mölln, Wismar, Rostock, ins Lüneburger Gebiet (Ebsdorf, Gerdau, Uelzen, Celle), nach Hannover (Hildesheim, Peine, Eimbeck, Oldendorf), dann in das Gebiet von Stendal und Brandenburg (Berlin), Frankfurt a. O., Dresden, Magdeburg, Staßfurt und Halberstadt, ins Anhaltische (Bernburg, Aschersleben) und Mansfeldische (Eisleben) im Osten und endlich nach Querfurt, Sangerhausen, Bamberg und Nürnberg im Süden.

Die Ouellenforschung gibt uns nun nicht nur ein Mittel an die Hand, zu erklären, wie das Volksbuch entstanden ist. Ursprünglich bildeten den Hauptinhalt die Streiche, die der Bauernsohn den Handwerkern gespielt hat. Darin erkennen wir die Tendenz des Buches. Es sollte eine Satire sein auf die Handwerker, die am Ausgang des Mittelalters in den Städten die gewichtigste Rolle spielten. Nun kam der Bauernsohn und spielte ihnen allerlei Streiche. Dies war die Rache des Bauern an den hochfahrenden Städtern.

Die Motive dieser Handwerkerschwänke sind recht eintönig. Viele sind nur Variationen desselben Themas. Am häufigsten sind die Fälle, wo Eulenspiegel, sich genau an die Worte seines Meisters haltend, diesem das Arbeitsmaterial verdirbt.

Drei Gruppen von Geschichten also, etwa 1-120, 39-66, 89 bis 95, haben den Kern gebildet, um den dann die andern Geschichten gelagert worden sind. Man darf aber nicht glauben, daß man nun auf diese Weise das plattdeutsche Original wieder herstellen könnte. Viele von den "unechten" Geschichten haben nachweislich schon in dem Original gestanden. Man meint sogar, nachweisen zu können, daß auch dieses plattdeutsche Original einen Vorgänger gehabt hat. Der älteste Bearbeiter sei, wie die Vorrede angibt, ein Laie gewesen, der der "lateinischen Schrift ungelehrt" war, aber das Ganze sei dann von einem Gelehrten überarbeitet worden, der nicht nur die lateinischen, sondern auch sonst allerlei gelehrte Ausdrücke hineingebracht habe. Es sei sogar zweifelhaft, ob die älteste Fassung von einem einzelnen Verfasser stamme. Er zeige eine derart eingehende Kenntnis der Fachausdrücke in den einzelnen Handwerken und die Ortsangaben seien so genau, daß man unmöglich annehmen könnte, ein einzelner habe alle diese Kenntnisse besessen.

Fassen wir also das Resultat unserer Betrachtungen zusammen: Das Volksbuch, wie es uns heute vorliegt, hat eine lange Vorgeschichte. Als Grieninger es zuerst um 1510 zum Druck brachte, ließ er eine plattdeutsche Vorlage ins Hochdeutsche übertragen. Diese Vorlage enthielt schon den größten Teil der heutigen Geschichten. Sie war eine Erweiterung eines älteren Werkes, das man früher fälschlich um 1483 angesetzt hat. Da es aber ein Druckwerk aus Niederdeutschland, wahrscheinlich aus Braunschweig, war, so kann es nicht viel vor 1500 entstanden sein, weil die Buchdruckerkunst dort erst um diese Zeit zur allgemeinen Verbreitung kam.

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Der kulturgeschichtliche Hintergrund.

Da Eulenspiegel um 1300 geboren und seine Geschichte erst um 1500 ausgeschrieben worden ist, ist es erklärlich, daß das kulturelle Bild, welches das Volksbuch bietet, aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt und uneinheitlich ist. Im allgemeinen schildert es die Verhältnisse der beginnenden Neuzeit, wenn auch noch mehrfach Erinnerungen an das Mittelalter (Turnier in Eimbeck, Osterspiel in Büddenstedt) auftreten. Auch die Angaben über Ort und Zeit der einzelnen Begebenheiten sind durch die Äberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht mehr und mehr verwischt und undeutlich geworden. Die Angaben über die Kaiserwahl, die Belagerung von Frankfurt und den Bischof Balduin von Trier, über den König Casimir von Polen und den Herzog Bernhard von Anhalt führen in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts, während, wie schon erwähnt, der Abt Papenmeier und der Pfarrer Hamenstede, die der Verfasser des Volksbuches gekannt hat, um 1500 herum nachgewiesen sind. Eulenspiegels Jugend fällt noch in die Zeit des Meisters Eckhart von Straßburg, die ersten Ausgaben des Volksbuches fallen zusammen mit dem ersten Auftreten von Luther und dem Beginn der Reformation.

Zwei Welten stoßen im "Eulenspiegel" zusammen, das verfallende Rittertum und das Ringen der Bauern und Städte um die Macht. Als Speerträger eines Junkers beginnt Eulenspiegel seine Laufbahn, dem Kampf gegen die Städter gilt sein späteres Leben. In seiner Satire verschont er nichts, was in den Städten wohnt, vom hochmögenden Ratsherrn und Richter herab bis zum letzten Handwerksgesellen und Torwächter. Die Handwerker sind zwar schon in Zünften zusammengeschlossen, haben ihre Zunfthäuser, wie die Bäckerstube in Braunschweig (19), und ihre Zusammenkünfte mit den Genossen anderer Städte (Rostock 50), aber wir erfahren noch nicht viel von ihren strengen Handwerksregeln und ihrer Monopolstellung. Wie ist es möglich, daß Eulenspiegel bei allen nur denkbaren Handwerksmeistern Arbeit findet? Er war doch das, was man einen Böhnhasen nennt, einer, der kein Handwerk ordentlich gelernt hatte. Hatte ihn ein Bäcker hinausgewiesen, so ging er zu einem Schmied, einem Schuster, einem Barbier, Brauer oder wo er gerade unterkriechen konnte. An die 20 verschiedene Handwerke finden sich im Volksbuch verzeichnet. Die Geschichten sind mit Vorliebe nach Orten verlegt, wo ein Handwerk besonders blühte, so die über die Schuster nach Braunschweig, Stade, Wismar, die Schmiede nach Rostock, Wismar, die Kürschner nach Berlin und Leipzig, die Brauer in Eimbeck und die Küfer nach Lübeck.

Nehmen die Handwerkshistorien den größten Raum ein, so folgen ihnen an Zahl bald die Wirtsgeschichten. Die Klagen über schlechte Bewirtung und Übervorteilung der Gäste sind in allen Reiseberichten der Zeit gang und gäbe, und es ist nicht zu verwundern, daß der Schalksnarr den Wirten einen Tort anzudrehen suchte, wo es nur immer angängig war.

Nicht ohne Grund haben auch die studierten Leute ihren Platz im "Eulenspiegel" gefunden. Ein weltlicher Gelehrtenstand existierte

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damals noch nicht, er begann erst seit der Gründung der Universitäten sich heranzubilden. Um welch nichtige Dinge die Professoren und Studenten zu Prag und Erfurt sich damals abmühten, erfahren wir aus zwei Geschichten, wie Arzt und Apotheker vom Volke eingeschätzt wurden, aus mehreren am Anfang und am Schluß des Buches.

Von ganz besonderer Bedeutung ist die Einstellung des Volksbuches zu den religiösen Dingen. Es zeigt uns, wie stark die Kritik an der Kirche und ihren Dienern schon um 1500, vor Beginn der Reformation angewachsen war. In dem Vorwort verwahrt sich daher auch der Herausgeber, daß er der Kirche Ärgernis bereiten wolle, er verdammt auch Wicliff und Huß, die Vorläufer der Reformation. Aber wie ist das in Einklang zu bringen mit den Geschichten des Pfarrers zu Büddenstedt, mit dem Handel mit dem Totenkopf, mit den Streichen, die Eulenspiegel den Pfaffen noch auf seinem Totenbett spielt? Diese Geschichten haben gewiß stark zu der schnellen Verbreitung des Volksbuches beigetragen. Es traf in allem den Ton der Zeit. Das Lesepublikum verlangte nach einem derben Unterhaltungsstoff; kurze Novellen nach der Art des Boccaccio, Satiren und zotige Schwänke waren seine Lieblinge.

Die Kirche, die im Mittelalter der Lebensauffassung eine einheitliche Ausrichtung gegeben hatte, hatte allmählich ihr Ansehen und ihren Einfluß eingebüßt, die Moral war gesunken, der Autoritätsglaube verloren. Kaiser und Reich waren machtlos; die Fürsten schalteten und walteten in ihrem Gebiet, wie es ihnen paßte, sie hatten einen großen Hofstaat, hielten sich ihre eigenen Geistlichen, Arzte, Hofnarren; der Adel war heruntergekommen, die Ritter zu Raubrittern geworden, die sich "aus dem Sattel ernährten", aber ständig befürchten mußten, daß sie den bewaffneten Städtern in die Hände fielen. Denn streng waren damals notgedrungen die Gesetze. Schon ein Diebstahl, ja ein Betrug, führte den Verbrecher an den Galgen.
 

Die Ausgaben.

Das Volksbuch hat sich von vornherein einer großen Beliebtheit beim Volke erfreut. Es fand bald nach seinem Erscheinen auch in den Niederlanden, in Frankreich und England eine weite Verbreitung. Von den 108 Ausgaben, die Lappenberg bekannt geworden sind, sind etwas mehr als die Hälfte deutsch, die andern flämisch, französisch, englisch. Auch ins Lateinische ist es dreimal übersetzt worden, ebenso mehrfach ins Dänische, Polnische, ja ins Judendeutsche.

In Deutschland wurde es im 16. Jahrhundert zuerst in Straßburg, Erfurt, Augsburg, Frankfurt, Köln immer wieder gedruckt, später in Dresden, Leipzig, Halle, Nürnberg, Hamburg, Prag, Wien. In den Niederlanden war es fast ebenso bekannt wie in Deutschland. Lappenberg führt 23 Drucke an aus Antwerpen, Brüssel, Amsterdam, Rotterdam, Brügge, Gent, Middelburg. Am die Mitte des 17. Jahrhunderts begann man dort, die Geschichten nach niederländischen Orten zu verlegen und Damme als Geburts- und Todesort einzusetzen. Die zahlreichen Übersetzungen ins Französische gehen von dem flämischen Text aus, werden z. T. in den Niederlanden (Antwerpen, Amsterdam) gedruckt, meist aber in den nordfranzösischen Städten (Lille, Paris, Douai, Orleans, Rouen usw.). In Frankreich waren die Geschichten so bekannt, daß das Wort "Eulenspiegelei" ESPIÈGLERIE [ESPIÈGLE (Adj.)] in den alltäglichen Sprachschatz eingegangen ist.

Schon die dritte der bekannten Eulenspiegelausgaben, die des Servais Kruffter in Köln, hat die Zahl der Historien verändert. Bei ihm finden wir nur

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78 Geschichten, während andere seiner Nachfolger sie auf mehr als 100 gebracht haben. Im wesentlichen aber sind die ursprünglichen Geschichten so erhalten geblieben, wie wir sie bei Grieninger finden, bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts hinein. Erst um 1830, als man anfing, die Geschichten für die Jugend zu bearbeiten, hat man eine Reinigung und Scheidung vorgenommen. Vorher hat der eine oder andere Verleger höchstens einmal diejenigen ausgemerzt, an denen die Kirche Anstoß nehmen konnte.

Die Eulenspiegelgestalt in der deutschen Dichtung.

Es bleibt eine besondere Aufgabe, alle deutschen Dichtungen, die sich mit der Eulenspiegelgestalt befassen, zusammenzustellen. Das Interesse am Eulenspiegel ist in den seit dem Erscheinen des Volksbuches verflossenen vier Jahrhunderten recht ungleich gewesen. Im 16. Jahrhundert allein sind soviel Ausgaben erschienen wie in den beiden folgenden Jahrhunderten zusammen. Die Verheerungen des 30 jährigen Krieges waren auf geistigem Gebiet ebenso schlimm wie auf wirtschaftlichem und ließen eine Freude an dem überlieferten Volksgut nicht aufkommen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann man, besonders unter dem Einfluß von Lessing u. a., sich wieder auf die alten Schwänke zu besinnen.

Unter den Dichtern, die bald nach dem Erscheinen des Volksbuches sich der Eulenspiegelfigur für ihre Dichtungen bemächtigt haben, treten besonders HANS SACHS, der verschiedene Historien für seine Schwänke benutzte, und der bekannte Straßburger Satiriker und Jesuitengegner JOHANN FISCHART hervor, der 1571 den "Eulenspiegel Reimensweis" herausgab.

Am Ende des 18. Jahrhunderts gab man verschiedenen Wochenschriften den Namen "Eulenspiegel", und Eulenspiegel kam sogar auf die Bühne (z. B. Weidmann in Dessau 1783). Auch der bekannte KOTZEBUE hat sich an diesem Stoff versucht.

Eine neue Welle der Eulenspiegel-Verherrlichung setzt dann um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein (z. B. Adolf BÖTTIGER, Till Eulenspiegel, ein Heldengedicht, Leipzig 1850; Adolf von TSCHABUSCHNIGG, der moderne Eulenspiegel, ein Roman, 2 Bände, Pest 1846; J. N. NESTROY, Eulenspiegel, ein Lustspiel; Karl SCHULTE, Eulenspiegel II, eine Erzählung, Jena 1867).

Immer zahlreicher werden die Eulenspiegeldichtungen in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwunges Deutschlands vor dem Weltkrieg (z. B. JULIUS WOLFF, Till Eulenspiegel redivivus, ein Schelmenlied, 1874; Fritz LIENHARD, Eulenspiegel, ein Drama, 1895; RICHARD STRAUSZ, Till Eulenspiegels lustige Schwänke, 1894).
Auch GERHART HAUPTMANN hat den Stoff bearbeitet (1927).

Die moderne, tiefere Auffassung der alten Narrenfigur verdanken wir zum Teil den Flamen. Es wurde oben erwähnt, daß diese schon früh der alten Überlieferung eine selbständige Gestaltung gegeben haben. Sie haben heute ihren eigenen "Uilenspiegel", der in Damme bei Brügge geboren ist, dessen Jugendstreiche zum Teil unserm Volksbuch
entlehnt sind, der aber als Mann ein Held im Freiheitskampf gegen die spanischen Bedrücker wird. Seine Zeit ist also nicht das 14. Jahrhundert, sondern das 16., die Zeit Philipps II. und des Herzogs von

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Alba. Er hat seinen Dichter in CHARLES DE COSTER gefunden, einem Brüsseler Geschichtsprofessor und Erforscher der niederländischen Vergangenheit. Seine 1867 in einer altertümelnden vallonisch-französischen Sprache erschienene "LÉGENDE D'ULENSPIEGEL ET DE LAMME GOEDSAK" ist als die flämische Bibel bezeichnet worden. Zuerst wenig beachtet, ist sie in neuerer Zeit in zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen (auch eine deutsche im Inselverlag) weit verbreitet worden.

Die Auffassung der Eulenspiegelgestalt hat sich allmählich immer mehr von der ursprünglichen entfernt. Aus dem Narren ist ein Weiser geworden, der den Leuten seinen Spiegel vorhält und sie ihre eigene Narrheit erkennen läßt. Er ist eine Art Peer Gynt geworden, und es ist zu erwarten, daß wir unter seinem Namen einmal ein Meisterwerk der deutschen Dichtung erhalten werden, das ein Seitenstück zu dem Evangelium der spanischsprechenden Völker, zum Don Quijote, bilden wird. Wir sind auf dem Wege dazu. Allein im letzten Jahre sind drei neue Eulenspiegeldichtungen erschienen, die große Anerkennung gefunden haben: E. KIESEL, Unterwegs nach Mölln, Hamburg (Broscheck); MORITZ JAHN, Ulenspegel und Jan Dood (mit dem Literaturpreis der Provinz Hannover ausgezeichnet); und HANS STIEBER, Der Eulenspiegel, eine Oper, die in Leipzig unter großem Beifall ihre Uraufführung erlebt hat.
 


(Schluß folgt.)


 


 

 

 

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