Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1928


Der Maxgrund.

Skizze von WILHELM WENDLING-Lauenburg(E.)

In den großen Städten, wo Handel und Wandel ihre Löffel schwingen und alles zu einer großen OLLA POTRIDA zusammenrühren, wo die Bahnhöfe unablässig wie laufende Brunnen Menschen ausströmen lassen und wieder Menschen aufsaugen wie Kanalisationsschächte das schmutzige Regenwasser, da macht man sich keinen Begriff davon, wie trutzburghaft und umkapselt so ein Kleinstädtchen ist. Alles, was nicht in seinem engen Bezirke gewachsen ist, bleibt ewig ein Fremdkörper darin. Ein Haus, das andere Ziegel oder höhere Fenster hat, fällt störend auf wie ein fremder Dialekt. Und gar erst ein Mensch, der höhere Fenster hat ...

Was ist die Straße in der Großstadt? Teils eine postalische, stadtgeographische Angelegenheit, teils ein Verkehrsproblem. Die Straße in der Kleinstadt dagegen ist etwas ganz anderes, ist ein Lebewesen, eine geschlossene Gesellschaft, ein ganz exklusiver Wohnklub, kurz, eine Individualität. In der Großstadt ist die Straße ein Teil des Ganzen, in der Kleinstadt ist sie ein Ganzes schlechthin. Wo ein Mensch in der Großstadt wohnt, ist gleichgültig. Er wohnt beziehungslos; wichtig ist nur die Entfernung bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Die Kleinstadtstraße ist eine Notenpresse, die ihrem Bewohner eine ganz bestimmte Prägung, einen ganz bestimmten Wert aufdruckt. Wo er geht und steht, ist er der Repräsentant seiner Straße, man nennt ihn mit ihr in einem Atem, er bildet mit ihr ein Begriffsganzes; selbst wenn er fortzieht, wird er sie nicht los, er bleibt immer der und der aus dieser und jener Straße.

Unser Städtchen liegt teils dicht am Flusse, fast in ihn hineingebaut, teils klettern die roten Dächer die engen steilen Einschnitte der Uferberge hinan, daß es aussieht, als seien sie mitten in eiliger Flucht vor einer Überschwemmung erstarrt, wie weiland Frau Gevatterin Loth bei Sodom und Gomorrha. Einer dieser Einschnitte oder Wohnschluchten ist der Maxgrund. Die kleinen nur einstöckigen Häuschen stehen eng nebeneinander wie Treppenstufen. Der jeweils obere Nachbar kann, wenn er zum Fenster hinaussieht, dem unteren fast in den Schornstein hineingucken und riechen, was zu Mittag gekocht wird. Nur der allerunterste am Anfang der Gasse genießt natürlich diesen Vorzug nicht mehr. Dafür ist aber gerade dieser ein Krämer; er braucht nur in sein Anschreibebuch hineinzusehen, um zu wissen, was er den Leuten des Maxgrundes zum Mittagessen verkauft hat. Die Maxgründer sind, wie man so zu sagen pflegt, lauter "kleine Leute", meistens Tagelöhner, die je ärmer sind, je mehr Kinder sie haben. Die Kinder krabbeln schon, ehe sie noch gehen können, über das holprige Pflaster, über das wegen des steilen Gefälles der Straße noch nie ein Wagen gefahren ist. Und wenn sie laufen können, eignen sie sich einen seltsamen treppensteigenden Gang an, den sie ihr ganzes Leben behalten,
und an dem sie ein Kenner schon von weitem als Maxgründer erkennt.

Um ihre Transporte auszuführen, haben die Maxgründer kleine vierräderige Handwagen. Wenn mit diesen jemand die Gasse hinauffährt, helfen ihm die Nachbarn ziehen und schieben, jeder das Stück vor seinem Hause und oft auch noch etwas weiter, bis der nächstobere Nachbar helfend eingreift. Jeder fühlt sich eben für die Terrainschwierigkeiten vor seinem Hause verantwortlich, als habe er selbst an dieser Stelle die Welt so steil erschaffen.

Hinter ihren Häuschen haben die Maxgründer aus dem buntscheckigsten Material Verschläge zusammengeflickt, in denen sie ihr Winterholz stapeln und allerlei Viehzeug halten. In jedem Hause findet einmal im Jahre ein Schweineschlachten statt. Das ist ein Ereignis für die Gasse, dem gegenüber die ganze Weltgeschichte verblaßt. Schon lange vorher werden die Todeskandidaten von allen Sachverständigen des Maxgrundes, das will heißen: von allen Maxgründern, zur Genüge taxiert und bewundert, wobei den Besitzern lobende Anerkennung nicht versagt wird. Neid kennt man hier nicht; ein fettes Schwein ist durchaus keine persönliche Angelegenheit des Aufziehers, sondern Ehrensache und fleischgewordenes Ideal der ganzen Gasse. Für diese Bewunderung verehren sich auch alle Familien gegenseitig nach Vollstreckung der Urteile eine Wurst zum abschließenden Gutachten, wobei dieselbe Objekt und Honorar zugleich ist.


1928/2 - 61
 

1928/2 - 62


Der Maxgrund ist wie ein kleines Ghetto. Wenn man ihn betritt, hat man nicht mehr das Gefühl, in einer öffentlichen Straße zu sein, man sieht sich unwillkürlich nach einem abschließenden Gitter um, nach einem Pförtner, den man fragen kann: Ist es erlaubt. mal da hinauf zu spazieren? - Wenn man die Gasse hinaufsteigt, hat man so sehr auf das holprige Pflaster acht zu geben, daß man die Häuser zu beiden Seiten wenig oder garnicht beachten kann. Umsomehr aber wird man selber beobachtet. "Was ist das für einer?" "Was will der hier?" fragen neugierige Blicke aus jedem Fenster, jeder Haustür. Erst im Rücken spürt man diese Blicke, sie fühlen sich an, als ob man von einem Maschinengewehr mit Nadeln beschossen würde. Und man ist immer ein wenig froh, wenn man das letzte Haus hinter sich hat.

Vielleicht erklärt sich dieses leichte Unbehagen daraus, daß vor ein paar Jahren einmal ein Anwohner des Maxgrundes einen Mord begangen hat. Ein Mord ist ja in unserm Städtchen etwas ganz unfaßbar Unerhörtes und seltener als eine Hundertjahrfeier. Als der Mörder genannt wurde, nannte man auch den Maxgrund mit. Die Gasse partizipierte gewissermaßen an der Tat, sie wurde mit verantwortlich gemacht, wie man einen Vater für einen mißratenen Sohn zur Rechenschaft zieht. Und der Blutfleck blieb auf ihr sitzen und wird auch nie wieder abzuwaschen sein.

Ja, das ist der Maxgrund. Wenn ich jetzt an mein Fenster trete, sehe ich ihn links wischen den Bäumen unter mir liegen, denn ich wohne auf dem Berge. von hier aus sieht es keineswegs so aus, als flüchteten die kleinen Maxgrundhäuschen den Berg hinauf wie auf der Flucht vor einer Überschwemmung, es hat eher den Anschein als rutschten und versackten sie immer mehr ins Städtchen hinab, das sich ihnen wie ein Trichter öffnet.

Die Großstadt breitet sich aus, verläuft ohne sichtbare Grenzen; ich brauche nur das Tintenfaß auf meinem Schreibtische umzustoßen, so habe ich in den strahlenförmig nach allen Richtungen verrinnenden Tintenbächen ein Gleichnis ihres Wesens - ausgenommen die sehr sichtbaren Grenzen - die Kleinstadt aber möchte sich am liebsten in sich selber verkriechen wie ein Quecksilbertropfen.



 


 

 

 

*