Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1929



Der Apostelaltar im Ratzeburger Dom.

Von F. v. NOTZ.

 

C. Die Passionstafel.

Im Innern des Apostelschrankes ist heute allein das Steinbild von Bedeutung. Unten am Rande steht zu lesen: "Diese kunstreiche schöne Passionstafel ist aus einem Steine gehauen". Das will aber nicht als das Wertvollste an dem Steine erscheinen. Immer schon galt er als etwas besonderes: Kunrad von Hövelen, der Lübeckische Reiseschriftsteller schreibt 1667 über ihn: "Die steinerne ausgehaune Bildmärktafel, darin die ganze Passion, ist ein trefflich Kunststück und hohen Währtes." *)

"Angeblich hat der Ratzeburger Domherr Hartwich von Bülow. der den Apostelaltar 1634 wiederherstellen ließ, dis Steintafel aus einem Kloster herbeigeholt. Doch läßt sich dafür kein Beweis erbringen, noch weniger ein Anhalt gewinnen, um welches Kloster es sich handelt. Die Restauration und die verständnislose Übermalung stammen aus dem Jahrs 1883."
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*) Der Stein gehört kunstgeschichtlich zu einer Gruppe von vier einander sehr ähnlichen Bildwerken gleicher Herkunft und gleicher Bedeutung. Die drei anderen Stücke befinden sich in Anklam, in Lübeck (St. Annenmuseum. der sogen. Schwartauer Altar) und im Schweriner Dom. Alle vier sind Abwandelungen des gleichen Gedankens, ohne "Wiederholungen" zu sein. Sie sind unzweifelhaft von demselben Künstler, dessen Namen nicht auf uns gekommen ist. Auf sie machte A. Goldschmidt aufmerksam in seiner Schrift: "Lüb. Malerei und Plastik bis 1530"; Lübeck 1890. S. 12 Taf 12 -13; ebenso Schlie in "Die Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Großherzgt. Mecklenbg.-Schwerin" II, S. 551; Dehio: "Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler"; Dehio und Bezold: "Die Denkmäler der deutschen Bildhauerkunst im 15. Jahrhundert", Tafel I; W. Bode: "Geschichte der deutschen Plastik"; Karl Schäfer: "Vergessene Meisterwerke der Lübecker Plastik aus dem Anfange des 15. Jahrhunderts (Burgkirchenplastik)" (Jahresbericht des Vereins der Kunstfreunde 1908-11, Lübeck 1911). Carl Heise erwähnt die Reliefs im Lübecker Heimatbuch 1926 unter "Lübeckische Plastik und Malerei", S. 218; ebenso R. Struck in "Beiträge zur Lüb. Kunstgeschichte" II, "Die Werke lüb. Steinplastik aus dem Beginn des 15. Jahrhunderts und ihre Meister", Jahrbuch des Museums für Kunst und Kulturgeschichte 1920, sowie in "Materialien zur lüb. Kunstgeschichte" im Bd.. XXIII der Zeitschr. d. Vereins f. Lüb. Gesch. 1926; S. 338 Anm. 16. Eingehendste Bearbeitung erfuhren die vier Kunstwerke durch A. Pescatore in "Der Meister der bemalten Kreuzigungsreliefs; ein Beitrag zur Geschichte der niederdeutschen Plastik im 15. Jahrhundert"; Straßburg i. E., 1918. Aus dieser Schrift sind manche der nachfolgenden Ausführungen entnommen.

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Einst wird die Steintafel die Predella eines Altartisches gebildet haben. Ihr alter Holzrahmen zeigt an den Seiten Einschnitte, die auf eine andere Verwendungsart als die seitherige schließen lassen.




Phot. A. Hannig, Ratzeburg.
Die Passionstafel im Ratzeburger Dom.
 

Das figurenreiche, buntbemalte Bild führt die vier Hauptleidensstationen Christi ineinander übergehend vor. Links das Tor von Jerusalem, der "hochgebauten Stadt". Aus ihm tritt Jesus hervor, durch die Kreuzeslast gebeugt, gezerrt von einem Henkersknecht, dessen widerwärtige Fratze im Gegensätze steht zu des Heilandes milden Zügen. Hinter beiden erhöht, als stünden sie auf ansteigendem Bergeshange, drängt sich neugieriges Volk, Juden und Soldateska. Das Torgebäude weist hin mit seinem getreppten Giebel auf die niederdeutsche Städtebaukunst des 14. und 15. Jahrhunderts, wie sie uns noch heute in Lübeck u. a. O. entgegentritt.

Die mittlere Hauptgruppe stellt die Kreuzigung dar; die Schächer fehlen. Das Kreuz, das fast die ganze Höhe des Steines durchmißt, erhebt sich auf Golgatha, der Schädelstätte, die kenntlich wird durch den am Kreuzesfuß liegenden Totenkopf, nach der Legende derjenige Adams, dessen Grab sie hierher verlegt.

Der Leib des Herrn zeigt im Tode nichts von den ausgestandenen Qualen; er scheint vor dem Kreuze zu schweben, nicht an ihm zu hängen. Er ist nicht schmerzverkrampft; sanfte Wehmut liegt auf den Zügen des Antlitzes. Er hat ausgelitten. Er ist zwar kein

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triumphierender König, aber ein segnender Erlöser. Vier Engel umschweben ihn, um das aus den Wundmalen strömende Blut in Kelchen aufzufangen.

Unter dem Kreuz links steht die Gruppe wehklagender Frauen und der anbetende Johannes; rechts der römische Hauptmann, der zu dem Hohenpriester neben ihm spricht; "VERE FILIUS DEI ERAT ISTE", wie das Spruchband besagt, das von seiner erhobenen Rechten zum Gekreuzigten hinaufflattert.

Nach rechts geht das Bild in die Grablegung über. Die Jungfrau küßt noch einmal den Mund des toten Gottessohnes, der durch Joseph von Aremathia und Nikodemus, von Johannes geleitet, in den Sarg gebettet wird. Darüber die Auferstehung. Durchaus körperlich, ganz und gar nicht geistig, entsteigt der Herr dem Grabe, das die Grabeshüter umgeben, "erschrocken, als wären sie tot". Es nahen wieder die Frauen, Spezereien in den Händen. Das versteinerte Evangelium. Die himmlischen Heerscharen andeutend schwebt eine dichte Kette von Englein, die Händchen zum Gebet gefaltet, den oberen Rand des Bildes füllend, über dem Ganzen.

So ist jedes Fleckchen des Steines ausgefüllt. Selbst der Pflanzen- und Tierwelt ist wie in einem Gemälde - die Anteilnahme an dem Erlöserwerke vergönnt.

Alles ist mit liebevoller Genauigkeit in peinlicher, zierlicher Durcharbeitung dem spröden Steine abgewonnen. Nichts ist als Nebensache behandelt. Leider verdeckt der Ölanstrich manche der Feinheiten.

Zweifelsohne sucht hier die Bildhauerei Anlehnung an die Malerei. Doch will es sogar so scheinen, als beabsichtige der Bildhauer den Maler zu übertrumpfen. Was diesem auf glatter Bildfläche unmöglich, hier wird es in die Tiefe des Steines gelegt: im Tore, hinter dem Gitterfenster, dem Beschauer von vorne unsichtbar, ist mit erstaunlichem Fleiße das auf dem Wege zum Richtplatze nachdrängende Volk durch ein paar Gestalten dargestellt; "ein Virtuosenstücklein des Künstlers".

"Das Schönheitsideal des Künstlers bei den Frauengestalten verrät sich durch große Anmut, durch volle Wangen und rundes Kinn, durch winzige Mündchen, deren Winkel nicht über die an den Nasenflügeln herabzuziehenden Senkrechten hinausgehen. Die schmerzensreiche Gottesmutter trägt offen ihr weichwelliges Goldhaar, während die anderen Frauen die Kräuselhaube mit darübergeschlagenem Mantel, die Nonnentracht des Anfanges des 15. Jahrhunderts, tragen. Sind sich auch die Gesichter der Frauen geschwisterlich ähnlich, so sind sie doch ohne Eintönigkeit." Die Gewänder wallen über die Füße herab. Auch die Engelsköpfcben erfreuen durch kindliche Lieblichkeit des Ausdrucks.

Die Gesichter der Männer sind aus dem Leben gegriffene Typen. Die Guten und Bösen, die Eifrigen und die Lauen sind unterschiedlich dargestellt. Abschreckend häßlich ist der Henkersknecht. Die Landsknechte, teilweise mit langen, aufgestülpten Nasen, sind derbe Gesellen, auf deren Gesichtern sich Gutmütigkeit ausprägt. Vorn der Hauptmann ist ein feiner Mann, reich gekleidet. Seine mit spitzzulaufenden Füßlingen versehenen Beinkleider sind so eng, daß es glaublich erscheint, daß so vornehme Herren eines Dieners benötigten,

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um hineinzukommen. Die kostbare Pfauenfeder auf dem hohen Barett kennzeichnen ihn weiter als den Vornehmen, zu dem auch der Hohepriester neben ihm durch seine feine Bekleidung gemacht ist.

Die Judenköpfe tragen noch den mittelalterlichen Judenhut, dessen Spitze aber bereits hornartig umgebogen ist. Die Soldaten tragen glatte Pickelhauben über dem Schuppenkragen, teils mit, teils ohne das hochgeklappte Visier. So verweisen die Trachten auf den Anfang des 15. Jahrhunderts.

Um das "geheimnisvolle Material", die Steinart. ist viel gestritten worden. Lange wurde sie für Stuck gehalten. Die fast überfeine Ausführung sollte an weichen Stoff gebunden gewesen sein. Dieser ist als grauer westfälischer Kalksandstein erkannt, "Baumberger Sandstein", aus dem ebenmäßig alle vier Reliefs verfertigt sind. Das läßt einen Schluß auf die Herkunft des Meisters zu. In Westfalen finden sich auch sonst noch mancherlei nahe verwandte Steinplastiken der gleichen Zeit. So in Paderborn, Münster. Bentlage, Vrede und Coesfeld. In Coesfeld befindet sich eine alte Glocke von 1428. Sie zeigt ein Marienrelief, das stark an die "Jungfrau" unseres Meisters erinnert. Die Glockeninschrift lautet: "mi heft ghemakt Johan smit ut henegaven". Ob sich hier der Künstler oder der Glockengießer verewigte, steht dahin. Jedenfalls muß vorläufig unser Meister namenlos bleiben. Seine geistige Heimat liegt unzweifelhaft in der flandrisch-burgundischen Kunst des Ausganges des 14. und des beginnenden 15. Jahrhundert. *) Enge Beziehungen hatte er gewiß zu Lübeck, dem damals bereits so reichen und mächtigen Haupte der Hanse, in dem sich gerade zu jener Zeit ein reiches Kunstleben entfaltet hatte.
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*) C. G. Heise (im Lüb. Heimatbuch von 1926) meint dagegen, die vier Reliefs seien "offenbar in Lübeck entstanden, früher als die westfalischen; Lübeck wirft auf Westfalen zurück"; die Beziehungen beider zueinander waren ja in jener Zeit "auf allen Gebieten natürliche Gegebenheiten". "Der Lübecker Meister ist ein Fabulator von Geschmack und Geist, burlesk und graziös, modisch und originell, immer von entzückender Heiterkeit des Gemüts. Man kann die Kalvarienberge, die mit den übrigen Szenen der Passionen unbedenklich, wenn auch immer ganz organisch zu einem Bilde des bunten Treibens der Welt zusammengefaßt sind, ablesen wie lustige Begebenheiten aus einem Märchenbuche. Sie sind das Gegenspiel zur monumentalen Gestaltung. Sie stehen der Miniatur näher als der Großplastik. Die französische Malerei wird stärker auf die Kunst des Meisters eingewirkt haben, als die heimatliche Skulptur, obgleich eine gewisse Verwandtschaft mit dem Burgkirchenmeister nicht ganz abgeleugnet werden soll. Aber sie sind später entstanden, kaum viel vor 1430. Der Schwartauer' Altar trägt die Stifterwappen ... um 1428". Ehemals befand er sich am Altar der Cirkelbrüderschaft der Lübecker Katharinenkirche. (Er besitzt noch seine zwei Flügel mit Malereien auf viergeteilten Holztafeln.)

Wie der Ratzeburger Passions-Stein am Apostelaltar ist der Schwartauer aus einer Sandsteinplatte geschaffen, nur ist letzterer größer und tiefer.

In der Ausführung stimmen beide Steine so völlig überein, daß vielfach die Gesichter nicht nur ähnlich, sondern gleich sind, wenn sie auch in Äußerlichkeiten voneinander abweichen.

Die bunte nachträgliche Bemalung ist auf dem Ratzeburger Steine dunkler gehalten wie auf dem Schwartauer. Dieser zeigt mehr Beschädigungen; so sind die den Gekreuzigten umschwebenden Engel abgebrochen; der Ratzeburger Stein ist unverletzt.

 


 

 

 

 

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