Lauenburgische Heimat
[Alte Folge]

Zeitschrift des Heimatbundes Herzogtum Lauenburg e. V.
1931



Die Ratzeburger St. Petrikirche im Mittelalter.

Von CAND. PHIL. HANS BERNHÖFT.
 

Die Geschichte der St. Petrikirche im Mittelalter ist bisher noch nicht erschöpfend und vollständig dargestellt worden. Die von Professor Hellwig in der Chronik der Stadt Ratzeburg angegebenen Daten und Tatbestände gehen nicht über die Forschungsergebnisse des Geschichtsschreibers über die Diözese Ratzeburg, des gelehrten Schönberger Rektors hinaus. Masch hat nur im Rahmen seines großangelegten Werkes (Geschichte des Bistums Ratzeburg. 1835) das Material auswerten können, das jetzt gedruckt bis zum Jahre 1400 in vollem, noch bereichertem Umfange in den Mecklenburgischen Urkundenbüchern (zitiert M. U. B.) zugänglich ist; gerade die neu veröffentlichten, bisher unbenutzten und andere ungedruckte Urkunden in den Archiven Kiel und Neustrelitz geben ein klares Bild von den mittelalterlichen kirchlichen Verhältnissen der St. Petrikirche. Die zum ersten Male ausgebeutete Kirchenvisitationsordnung um 1400 (M. U. B. XXIV, Nr. 13 738) ermöglicht eine zuverlässige Darstellung des gesamten kirchlichen Lebens in einer Stadtpfarrei des Bistums Ratzeburg..

Die Überlieferung über die St. Petrikirche ist sehr dürftig; die große Feuersbrunst im 16. Jahrhundert, die das Rathaus in Schutt legte, verwandelte alle Privilegien und wertvolle Kirchenbücher in Asche, so daß wir keinerlei Aufzeichnungen von Stadtpfarrern über die St. Petrikirche besitzen.

Als schon der Dom den Norden der Insel einige Jahrzehnte lang zierte, wurde im Mittelpunkt, auf der höchsten Erhebung des Eilandes, um 1200 die St. Petrikirche erbaut, wie Pastor Fischer-Hübner durch die Untersuchung des Baustils nachgewiesen hat (Lauenburgische Heimat 1928, S. 73-76). Damals war die 1158 bekundete Absicht Heinrichs des Löwen Wirklichkeit geworden, den von Natur befestigten Stützpunkt zu einer Stadt auszubauen und mit einer Pfarrkirche zu schmücken; denn bei der Bestimmung der kirchenrechtlichen Ver-


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hältnisse in der Diözese Ratzeburg überließ der Herzog dem Bischof auch das Patronat "über die auf der Insel zu errichtenden Kirchen" (M. U. B. I, Nr. 65). Die Inselbevölkerung war so angewachsen, daß die Herauslösung aus dem alten Pfarrbereiche der St. Georgsberger Kirche notwendig wurde. Die dem Patron der Fischer, dem heiligen Petrus, geweihte Kirche wurde das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt.

Da der Herzog von Sachsen Grundherr der Insel war, stellte er die Mittel für den Kirchenbau zur Verfügung und stattete die Pfarrei mit Einkünften aus. Kirchliche Rechte standen aber den Herzögen nicht zu.

Wie bereits erwähnt, war der Bischof der Patron der St. Petrikirche, d. h. er bestimmte den Pfarrer und genoß die überschüssigen Pfarreinkünfte. Das bischöfliche Patronat währte nicht lange; denn 1301 (M. U. B. V, Nr. 2759) gehörte die St. Petrikirche schon längere Zeit zur domkapitularen Tafel. Es wurde also auch die St. Petrikirche wie die St. Georgsberger und Schlagsdorfer aus wirtschaftlichen Gründen zur Aufbesserung der Kapitelseinkünfte und zur Versorgung von Domherren dem Tafelgut des Domstiftes einverleibt.

Die Patronatsrechte wurden dem Kapitel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter dem Schutze der mächtigen Stadtherren von der erstarkten Stadt genommen, die der allgemeinen Entwicklung in den deutschen Städten folgend die "Selbständigkeit innerhalb der reinen kirchlichen Verhältnisse" erstrebte. Der Pfarrer wurde dann vermutlich vom Rate der Stadt gewählt; die überschüssigen Einkünfte fanden für soziale Zwecke der Gemeinde Verwendung. Zwischen 1410 und 1444 trat diese Veränderung ein. Während in den ab 1444 erhaltenen, im Hauptarchiv Neustrelitz aufbewahrten domkapitularen Wirtschaftsbüchern alle Einkünfte aus den anderen Pfarrkirchen des Stiftes eingetragen sind, buchte der Finanzbeamte des Kapitels nie eine Einnahme von der St. Petrikirche, die noch 1410 dem Kapitel zufloß. Der Bischof wahrte bis gegen Ausgang des Mittelalters seine kirchlichen Hoheitsrechte über die St. Petrikirche. Aus dem Bischofseid von 1511 ersehen wir, daß der Bischof die Gerichtsbarkeit über die Geistlichkeit in St. Petri an den Dekan, also das Kapitel, hatte abtreten müssen.

Alljährlich wurde die Pfarrei vom Bischof visitiert. Zwei Kirchenvisitationen aus den Jahren 1374 und 1382 sind urkundlich (M. U. B. XVIII. Nr. 10 534 und XX, Nr. 11 437) belegt. Sie fanden nicht in der Petrikirche statt, sondern der Ratzeburger Pfarrer und die Kirchengeschworenen begaben sich zum Dom, wo sie die Fragen des Bischofs über den religiösen und wirtschaftlichen Zustand der Pfarrei beantworteten. Daß die Visitationen als das beste Kontrollmittel für eine gute, einheitliche kirchliche Verwaltung galten, beweist die Visitationsordnung von 1400, in der die bis in alle Einzelheiten der kirchlichen Verhältnisse gehenden Fragen genau festgelegt sind. Im 15. Jahrhundert schlief diese heilsame Einrichtung ein, die von Luther neu entdeckt, 1564 auch in unserem Lande wieder eingeführt wurde.

Der Ratzeburger Pfarrer war bei Strafe der Exkommunikation verpflichtet, alle bischöflichen Verordnungen und Befehle auszuführen. Am 23. Februar 1374 beauftragte der Leiter der Diözese die Pfarrer von Ratzeburg, Mölln und St. Georgsberg, den wegen Unzucht und anderer Vergehen hart angeklagten Domherrn Hildebrand vor seinen Gerichtshof in Schönberg zu laden, beziehungsweise bei Erfolglosigkeit an den nächsten Sonn- und Feiertagen während der Messe dem Volke die Exkommunikation dieses abtrünnigen Ordensmannes zu verkünden. Der bischöflichen Aufforderung entsprechend hatten alle Pfarrer "zum Zeichen der Ausführung" die Urkunde ihres kirchlichen Oberherrn besiegelt; so fügte auch der Ratzeburger Pfarrer sein Privatsiegel bei, von dem nur das Wachs, nicht das Siegelbild vorhanden ist. (Erhalten ist nur das Privatsiegel von Otto von Grönau 1335, M. U. B. VIII, Nr. 5581.)

Der Pfarrbereich umfaßte im Mittelalter wie heute Stadt- und Landgebiet; Pfarrkinder waren die Einwohner der Stadt Ratzeburg und des Dorfes Dermin 1376 (M. U. B. XIX, Nr. 10 896), das um 1230 nach dem Zehntenregister (M. U. B. I, Nr. 375) noch zur Pfarrei Schmilau gehörte.

Die Angaben über die Ausstattung und die Einnahmen der Pfarrei sind gering. 1335 betrugen die jährlichen regelmäßigen Einkünfte des Stadtpfarrers dreizehn Mark (M. U. B. VIII, Nr. 5613). Aus der Kirchenvisitations-


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ordnung geht hervor, daß alle Pfarrinsassen "zu bestimmten Zeiten des Jahres", d. h. an den Hochfesten Abgaben, "Kirchensteuern" in Höhe von viertel und halben Pfennigen zahlten; ebenfalls mußten sie für die Amtshandlungen des Pfarrers Gebühren entrichten; freiwillige Spenden machten einen nicht unbeträchtlichen Teil der Einnahmen aus. Ziemlich genau unterrichtet sind wir über die Verwendung der überschüssigen Pfarreinkünfte, die nach Abzug der CONGRUA PORCIO (d. h. eines angemessenen Teils für den Lebensunterhalt des Pfarrers und die kirchlichen Unkosten) noch übrig blieben und dem Domkapitel zuflossen. In erster Zeit wurden sie nach der Speiseordnung von 1301 für Aufwendungen an Brot und Bier für die Domherren verbraucht. Um 1330 (gleichaltrige Abschrift, Hauptarchiv Neustrelitz) erhielt bei der Neuordnung der Pfründen der Prior "vor den anderen Kanonikern" 4 Mark DE PENSIONE ECCLESIE SANCTI PETRI IN CIVITATE RACEBURGENSI. 1410 März 26. (Original Hauptarchiv Neustrelitz) kaufte der Domherr Ghert Bretzeke vom Kapitel für 100 Mark eine Rente von 6 Mark, "de wy hebben van huse (niederdeutsche Bezeichnung für Überschuß aus den Pfarreinkünften) van unser kerken to sunte Petere in der stad to Raceborch". Später wurde bekanntlich der Restbetrag dem Domkapitel nicht mehr gezahlt.

Über die Verwaltung der Ratzeburger Pfarrei gibt uns eine Urkunde von 1326 (M. U. B. VII, Nr. 4794) genaue Auskunft, in der der Herzog von Sachsen-Lauenburg der domkapitularen Tafel die Mustiner Kirche einverleibt; nämlich die Mustiner Pfarrei sollte verwaltet werden, "wie es die ORDINACIO des Kapitels über die Kirchen von St. Petri in Ratzeburg, St. Georg und des Dorfes Schlagsdorf bestimmte". Von dieser Verordnung sind die wesentlichen Punkte kurz angegeben. Da ja für die Ausübung der meisten kirchlichen Handlungen die Priesterweihe erforderlich war, mußte der Pfarrer "ein ewiger ^presbyter", d. h. Priester sein. Die Seelsorge sollte entweder durch einen Welt- oder Ordensgeistlichen oder durch zwei Kapitelsmitglieder ausgeübt werden; jedoch wurde die St. Petrigemeinde nie von zwei, sondern immer nur von einem Domherrn betreut. Schon aus den wenigen urkundlichen Belegen können wir den Schluß ziehen, daß in den ersten zwei Jahrhunderten Ratzeburger Domherren Pfarrer von St. Petri gewesen sind. Aus der Chronik METROPOLIS IX, 8 (Frankfurt a. M . 1576) des berühmten Rostocker Universitätslehrers erfahren wir, daß sich unter Bischof Marquard (1309-35) ein Domherr der Seelsorgetätigkeit widmete. Um 1335 war Otto de Gronowe, ein sehr fähiges Kapitelsmitglied (später Prior und Bischof), Pfarrer. Der letzte uns urkundlich bekannte (1382) Seelsorger ist der Stiftsherr Fridericus Smethusen. Seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, als das Domkapitel vom Papste 1401 April 21. (Original Hauptarchiv Neustrelitz) die Besetzung der ihrer Tafel einverleibten Pfarrkirchen mit Weltgeistlichen erwirkte, erfüllte nicht mehr ein Domherr, sondern ein vom Kapitel, später vom Rat der Stadt bestellter Geistlicher die Seelsorgerpflichten.

Die Frage in der Visitationsordnung, ob der Pfarrer "IN SUO HOSPICIO GESSIT", d. h. sich in seiner Amtswohnung aufgehalten, bestätigt die selbstverständliche Tatsache, daß der Pfarrer zusammen mit den niederen Geistlichen und der Wirtschafterin im Pfarrhause wohnte.

Die Leitung der Pfarrei in geistlicher und weltlicher Hinsicht war in der Hand des Pfarrers konzentriert; seiner Aufsicht unterstanden der Kirchenvorstand, die anderen Geistlichen und der Küster der Kirche. Seine vornehmste und schönste Aufgabe war die Seelsorge, durch die er einen maßgebenden Einfluß auf das religiöse, sittliche, geistige und auch wirtschaftliche Leben der Pfarrkinder hatte. Er war verpflichtet, an Sonn- und Festtagen Messe und Predigt zu halten; er vollzog die Taufen, Eheschließungen, hörte die Beichte und legte den Beichtkindern die gebührenden Strafen, Beichtpfennige usw. auf. Er erteilte die letzte Ölung und bestattete die Toten.

Bei der Kirchenvisitation von 1382 begegnet uns urkundlich zum ersten Male ein CAPELLANUS, ein Hilfsgeistlicher, über dessen Lebenswandel sich der Bischof erkundigte. Als der Pflichtenkreis des Pfarrers zu groß ward, wurde zur Unterstützung des Hauptgeistlichen ein Kleriker angestellt.

Von den Vikaren, d. h. Geistlichen, deren Haupttätigkeit in der Zelebrierung einer täglichen Messe für das Seelenheil verstorbener Familienmitglieder des Stifters bestand, ist uns nur einer, Andreas Wagendriver, aus
 

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einem Rentenbrief der Herzöge Bernd und Johann von Sachsen-Lauenburg vom 31. Oktober 1455 (Original Kieler Staatsarchiv) bekannt; dieser "Meßpfaffe" war ein tüchtiger, gewissenhafter Mann, da er später noch zum bischöflichen Kanzler aufstieg.

Der "Glöckner oder Küster" (CAMPANARIUS SEU CUSTOS) läutete die Glocken "an den Festtagen der Heiligen und bei den Begräbnissen". Er sorgte für die Säuberung der Kirche und hob die Gräber aus. Alljährlich mußte der Küster dem Pfarrer eine Weinspende machen.

Dem Pfarrer standen zunächst als Berater, dann auch als Verwalter der wirtschaftlichen Angelegenheiten die IURATI, die Kirchengeschworenen, zur Seite. Da der heutige Kirchenvorstand noch dieselben Funktionen wie die mittelalterliche Laienvertretung inne hat, besteht hier eine gerade, unveränderliche Linie zwischen Mittelalter und Neuzeit. Um 1400 lag die Verwaltung des Kirchengutes und der Einkünfte in seinen Händen.

Das kirchliche Leben, der Verlauf und die Beteiligung an den privaten und die ganze Gemeinde betreffenden kirchlichen Feierlichkeiten war nach genauen Satzungen geregelt. An den Sonn- und Festtagen waren nach der Visitationsordnung "die Bürgermeister, die Ratsherren und alle anderen Laien" zum Kirchenbesuch verpflichtet; jeder mußte einmal im Jahre dem Priester beichten.

Das Interdikt, das große Machtmittel zur Wahrung der kirchlichen Autorität, war besonders für die Bestattung folgenschwer. Während solcher Strafzeit durften die Toten nicht aus dem Kirchhof, sondern nur außerhalb beigesetzt werden; nach Aufhebung des Interdiktes wurden die Verstorbenen dann auf dem Gottesacker der St. Petrikirche feierlich zur letzten Ruhe gebettet.

Von der Opferfreudigkeit und dem frommen Eifer der Ratzeburger Bevölkerung sind uns nur zwei Zeugnisse erhalten. Die beiden Figuren Maria und Johannes, die auf dem Altar der neuen St. Petrikirche seit 1929 neben einem kleinen Kruzifix sinnvoll aufgestellt sind, standen im Mittelalter zur Seite eines großen überragenden Christuskreuzes.

"de zelighe Johan Plote wandeghes (früher) borghermester" stiftete nach der genannten herzoglichen Urkunde vor 1455 für das Seelenheil seiner Familie eine Vikarie, d. h. eine tägliche Messe am Altar Symonis unde Jude Katherine unde Margarete; er stattete die Meßpfründe mit 300 Mark, die dem Geistlichen jährlich 20 Mark Renten einbrachten, aus.

Wenn auch die St. Petrikirche schon rein äußerlich von dem wuchtigen Dom überschattet wurde, so hat sie doch für die Inselbewohner als religiöse Kraftquelle gerade durch die so wichtige seelsorgerische Wirksamkeit des Stadtpfarrers mehr bedeutet als der prächtige, große Meß- und Chordienst der zahlreichen Domgeistlichkeit.




 

 

 

 

 

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